Fabian in Chandigarh

Meine Erlebnisse in Indien

Sector 34

Die Architektur von Chandigarh

Als Reaktion auf meine Homepage hatte ich eine Mail einer Architekturstudentin aus Kassel erhalten, die sich in einem Projekt mit einem Stadterweiterungsprojekt für Chandigarh beschäftigt und daher dankbar für Ansichten vor Ort war. Da meine Mails recht ausführlich waren und einiges zu den architektonischen Eindrücken enthielten, will ich sie hier auch der Allgemeinheit zur Verfügung stellen.

Zur Info vorweg: Chandigarh ist eine Planstadt und wurde im Wesentlichen vom schweizerisch-französischen Architeken LeCorbusier entworfen. Er wollte die Stadt anatomisch wie einen menschlichen Körper aufbauen mit strikt getrennten Funktionsbereichen: Zonen zum Leben, Arbeiten, Lernen und Entspannen. Chandigarh ist streng in Sektoren eingeteilt - jeder Sektor kann sich mit grundlegenden Dingen selbst versorgen und hat eigene Märkte.

Die Stadtränder von Chandigarh sind unklar. Die Sektorenaufteilung wurde immer wieder erweitert und entgegen LeCorbusiers Plänen haben die Bundesstaaten Haryana und Punjab ihre Satellitenstädte dicht an Chandigarh herangebaut, so dass der Übergang fließend ist und auch das Sektorenkonzept wurde übernommen. Sowohl Panchkula in Haryana wie auch Mohali (SAS Nagar) im Punjab sind zwar strukturell ähnlich, haben aber ein weniger entwickeltes Zentrum und beherbergen oft mehr Industrie. Sie sind ärmer und schlechter gepflegt als Chandigarh selbst.

Vidya Path

In Chandigarh sind viele Sektoren oder Teile von ihnen unbebaut. Der Platz wird von den ärmeren Bewohnern eingenommen. Da wo kein Zaun ("Regierungseigentum") ist, entstehen oft Zelt- und Slumsiedlungen. Fahre selbst täglich an einer großen Slumsiedlung in Sector 25 vorbei. Das Gelände in der Stadt ist verhältnismäßig eben. Außerhalb der Stadt gibt es kaum Landschaft. Ein paar ausgetrocknete Flüsse, aber irgendwo fangen immer wieder ein paar unkontrollierte Bebauungen und Slums an. In der Stadt selbst versucht man das zu vermeiden, an den Rändern klappt es wohl nicht.

Chandigarh ist grün - aber nur wenn man andere Teile Indiens kennt. Ich finde es immer noch recht staubig hier. Die Stadt zieht durch ihren Reichtum viele der Ärmsten aus dem ganzen Land an und die Bevölkerung ist in den letzten Jahren explodiert: auf etwa 1 Mio Einwohner. Chandigarh hat dennoch eher den Charakter einer 50.000 EW-"Metropole" in Deutschland. Also teilweise recht provinziell. Die Bevölkerung nimmt LeCorbusiers Konzepte eher schlecht an und bahnt sich i.d.R. ihren eigenen Weg.

Roundabout

Insbesondere die Straßenkonzepte sind eher europäisch und werden von den Indern nicht wirklich im Sinne des Erfinders angenommen. In Indien fährt man ohne Verkehrsregeln. Das heißt, auch in den Kreisverkehren (Bild oben) hat nicht etwa der im Kreisel befindliche Verkehr Vorfahrt, sondern man fährt wild durcheinander. Zebrastreifen oder Vorfahrtsschilder haben hier wirklich keinerlei Bedeutung. Auch in Chandigarh befinden sich Kühe auf der Straße, aber bei weitem nicht so viele wie anderswo. In Indien herrscht Linksverkehr, aber wenn einem Fahrer aus Bequemlichkeitsgründen etwas anderes einfällt, sieht man das hier pragmatisch und so kann einem auch in Einbahnstraßen oder expliziten Richtungsfahrbahnen immer was entgegen kommen. Die Sektoren sollten eigentlich vom Verkehr abgeschirmt sein und das Innere nur über bestimmte Straßen erreichbar sein. Allerdings bahnt man sich hier halt illegale Schotterwege über den Rasen oders Feld, um abzukürzen.

Positiv ist, dass jeder Sektor seinen eigenen Markt hat. So kann man überall das wichtigste in kleinen Geschäften einkaufen: seien es ein paar Lebensmittel, Wasser, Handys, Medikamente oder Haushaltswaren. Für Indien ist die Versorgung in Chandigarh überdurchschnittlich. Allerdings ist die Auswahl in jedem Supermarkt in Deutschland größer als in ganz Chandigarh.

Sector 35Die großen Entfernungen machen das Besichtigen und Einkaufen in Chandigarh schwierig. Ohne eigenes Fahrzeug oder Rikshas kommt man nicht weit. Die geplante Einkaufsmeile in Sector 17 existiert zwar und wird gut angenommen, hat aber durch den weitläufigen Blockcharakter den Charme einer sozialistisch geplanten Innenstadt wie in Chemnitz oder Cottbus. Es hat sich ein zweites Zentrum etabliert und zwar eine lange, vergleichsweise edle Einkaufs- und Restaurantmeile entlang der unteren Enden der Sektoren 22 und 35 (siehe Bild links).

Die ganzen Blockhäuser und die Ähnlichkeit vieler Sektoren führen dazu, dass man in Chandigarh leicht die Orientierung verlieren kann. Vieles sieht, insbesondere bei Nacht, einfach alles zu gleich aus. Die Straßenbeschilderung ist uneinheitlich. Die Namen der wichtigsten Hauptstraßen habe ich mir gemerkt und nach acht Wochen Chandigarh finde ich mich hier wahrscheinlich besser zurecht als viele Rikshafahrer, die mich schon öfter dort absetzen wollten, wo ich gar nicht hin wollte. Es gab bis vor kürzerer Zeit wohl sehr strenge architektonische Richtlinien, wie hier neue Häuser zu bauen sind. Nur dreistöckig und selbst die Farbe der Fassaden wurde festgelegt. Mittlerweile ist man etwas liberaler und das lockert die Stadt zumindest farblich ein wenig auf.

Eine befreundete indische Studentin, die hier Architektur studiert, ist von LeCorbusiers Konzept überhaupt nicht begeistert. Sie meinte, er war nur kurz hier, hat alles auf dem Reißbrett entworfen, ohne die indische Kultur und Familienstrukturen zu beachten. Normalerweise lebt man enger zusammen, auch mit den Nachbarn und hat dementsprechenden Kontakt untereinander. Durch Chandigarhs Weitläufigkeit ist das schlechter möglich. Auch fehlt Chandigarh der typische, lebhafte Trubel anderer indischer Städte. Es ist mehr ein Ort für reiche und wohlhabende Inder, die gerne einen hohen Lebensstandard genießen wollen. Denn durch seinen Status als Unionsterritorium und gleichzeitige Hauptstadt zweier Bundesstaaten ist Chandigarh überdurchschnittlich reich. Hier findet sich eines der besten und größten Krankenhäuser Nordindiens (PGI) und die Alphabetisierungsrate beträgt 80%, also auch weit über dem indischen Durchschnitt und wird nur vom kommunistischen Kerala im Süden Indiens übertroffen.

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